Verrohung der Debatte? Hassrede im Kontext der Flüchtlingskrise

Nach Godwins Gesetz wird es im Laufe einer Online-Diskussion immer wahrscheinlicher, dass die Rede auf Hitler oder den Nationalsozialismus kommt. Obwohl diese Gesetzmäßigkeit mit einem Augenzwinkern formuliert wurde (vgl. Godwin 1994), fußt sie auf tatsächlicher Foren-Erfahrung. Viele, die sich an langen Online-Diskussionen beteiligen, wissen, dass Debatten im Laufe der Zeit unsachlich werden, dass dort unpassende Vergleiche vorgenommen und Diskussionspartner persönlich diskreditiert und beleidigt werden. Über den Kommunikationsstil in Online-Medien gibt es schon seit länger Zeit Diskussionen – im Grunde schon seit der Zeit, in der das Internet das Licht der Welt erblickte und die Newsgroups im Usenet ab Mitte der 1980er Jahre anonyme Kommunikation zu allen denkbaren Themen ermöglichte.

Aber im Zuge des verstärkten Flüchtlingszuzugs konnte man in Deutschland ab ungefähr April 2015 eine steigende Aggressivität in den Debatten beobachten. Besonders in den populären Sozialen Medien, also vor allem bei Facebook und zum Teil bei Twitter, fiel eine Häufung von aggressiven, hasserfüllten und rassistischen Kommentaren auf, die den Bundesjustizminister im September 2015 zur Bildung einer Task Force „für den nachhaltigen und effektiven Umgang mit Hassbotschaften im Internet“ (Quelle) veranlasst hatten.

Oft ist also von Hassbotschaften oder Hasskommentaren die Rede. Die Begriffe mögen zutreffend sein, aber sie verschleiern die Abgründe der tatsächlichen Äußerungen (vgl. Hurtz 2015). Es fehlen einem die Worte angesichts der verwendeten Formulierungen. Der offensiv geäußerte, menschenverachtende Hass macht sprachlos.

51EF5fQHmnLVerständigung in öffentlichen Debatten wird immer schwieriger

Sprechen müssen wir aber darüber – ohne die Bedrohung dadurch zu überschätzen, aber auch mit dem Verdacht, dass die Aggressivität der Online-Debatten ein Baustein einer Entwicklung ist, im Zuge derer Verständigung in öffentlichen Debatten immer schwieriger wird. Denn wir brauchen im Kontext von Migration, Zuwanderung und Flüchtlingen unbedingt eine qualitätvolle öffentliche Diskussion über Ziele und Werte unseres Zusammenlebens, über Identität und Kultur und die Pflichten und Grenzen unserer Verantwortung für Humanität in dieser Welt.

In einem Beitrag zum Band „Begrenzt verantwortlich!?“ (hg. von Marianne Heimbach-Steins) habe ich jetzt versucht, die Frage beantworten, ob die Debatten in den Sozialen Medien wirklich aggressiver werden und wie man darauf medien- und sozialethisch reagieren kann. Der Band erscheint Anfang September 2016 (Vorbestellung im Buchhandel).

Angaben

Filipović, Alexander (2016 (im Druck)): Verrohung der Debatte? Hassrede im Kontext des Flüchtlingszuzugs nach Deutschland in den Sozialen Medien. In: Marianne Heimbach-Steins (Hg.): Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise. Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise. Freiburg: Herder. (Vorbestellung im Buchhandel)

Im Aufsatz verwendete Quellen und Literatur (Auswahl):

Beitrag zum „vernetzten Individualismus“

Gerade ist in den „Katechetischen Blättern“ ein Beitrag von mir erschienen, der die sozialen Phänomene hinter Facebook und Co. (= onlinebasierte soziale Netzwerkdienste) versucht zu beschreiben.

Filipović, Alexander (2013): Individualismus – vernetzt. In: Katechetische Blätter 138 (3), S. 164–169.

Ich stütze mich in meinem Beitrag wesentlich auf das Buch „Networked. The New Social Operation System“ von Harrison Rainie und Barry Wellman. Hier die Einleitungssätze meines Beitrags:

Die digitale Welt der Kommunikation beeinflusst unser Leben in grundlegender Weise. Hinter unserem Gebrauch vom Internet, den mobilen, internetfähigen Geräten und hinter unserer Kommunikation in den sogenannten Social Media zeigt sich ein Muster, das zu einem neuen Paradigma menschlicher Interaktion, zu einem neuen Denkmodell und einer neuen Leitidee des menschlichen Selbstverständnisses schlechthin avanciert. Vernetzung scheint ein Begriff zu sein, der diese Veränderung am treffendsten auf den Punkt bringt. Damit wird nicht, wie man denken könnte, die Individualisierung rückgängig gemacht. Vielmehr ist von einem vernetzten Individualismus die Rede. Das vernetzte Individuum ist der Mensch der digitalen Internetwelt und der vernetzte Individualismus ist das neue soziale Betriebssystem (vgl. Rainie/Wellmann 2012).

Geht man von der These einer grundlegenden Veränderung der Kommunikations- und damit der Lebensweisen in der Welt der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten aus, kann man zunächst nach den Auslöse- und Beschleunigungsfaktoren dieses Wandels fragen. Sie werden als soziale und technische Innovationen auf dem Weg zum vernetzten Individualismus vorstellig (1). Wie dieses Paradigma als Praxis realisiert wird, zeigt sich exemplarisch daran, wie Beziehungen und Familien im Modus der Vernetzung »stattfinden« (2). Diese Ergebnisse verschränken sich mit den im Prinzip schon länger bekannten und auch bedrohlichen Phänomenen einer Mediengesellschaft, die mit Virtualität und Inszenierung medienphilosophisch auf den Begriff gebracht werden (3). In einem kurzen Ausblick werden daraus einige grundsätzliche Anforderungen an Erziehung und Bildung in einer Gesellschaft des vernetzten Individualismus deutlich (4).

(Quelle: Filipović 2013, 164)

Das ganze Heft (H. 3 der Katechetischen Blätter 2013, Jg. 138) steht unter dem Thema „Social Media“ und ist vor allem für Pädagogen lesenswert. Hier geht es zur Website des Verlags (Editorial und einige weitere Texte sind einsehbar).

Literatur

  • Filipović, Alexander (2013): Individualismus – vernetzt. In: Katechetische Blätter 138 (3), S. 164–169.
  • Rainie, Harrison; Wellman, Barry (2012): Networked. The new social operating system. Cambridge, Mass: MIT Press.

Erzbischof Celli zu Kirche in den Social Media

Claudio M. Celli, Präsident des Päpstlichen Rates für die sozialen Kommunikationsmittel, hat auf der 13. Ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode (7. – 28. Oktober 2012) über die Bedeutung der sozialen Netzwerke für die kirchliche Kommunikation gesprochen.

Es handelt sich meines Erachtens um einen bemerkenswerten Text, vor allem weil er erstens die „digitale Arena“ als echten (und nicht degenerativen) Lebensraum vor allem jüngerer Menschen begreift, und zweitens eine Veränderung des eigenen kirchlichen Kommunikationsstils anmahnt, der deutlich über eine bloße Veränderung der Kommunikationsstrategie hinausgeht. Zitat:

„Wir müssen anerkennen, dass die digitale Arena heute die Realität vieler Menschen ist, in der sie leben, am deutlichsten in der westlichen Welt, aber auch zunehmend unter den Jugendlichen der Entwicklungsländer. Wir dürfen sie nicht mehr als „virtuellen“ Raum betrachten, der irgendwie weniger wichtiger wäre als der „reale“. Wenn die Kirche in diesem Raum nicht gegenwärtig ist, wenn die Gute Nachricht nicht auch „digital“ verkündet wird, laufen wir Gefahr, viele Menschen zu verlieren, für die das die Welt ist, in der sie „leben“: hier ist das Forum, auf dem sie ihre Informationen und Nachrichten beziehen, ihre Meinungen bilden und zum Ausdruck bringen, sich in Debatten engagieren, in Dialog treten und nach Antworten auf ihre Fragen suchen. Die Kirche ist schon gegenwärtig im digitalen Raum, aber die nächste Herausforderung ist jene, unseren Kommunikationsstil zu verändern, um diese Gegenwart wirksam werden zu lassen.

[…]

[D]ie neuen Medien sind wirklich eine offene Welt, frei, „auf Augenhöhe“, sie anerkennen oder privilegieren nicht automatisch Beiträge von etablierten Autoritäten oder Institutionen. In einem solchen Umfeld ist Autorität kein Recht sondern muss verdient werden. Das bedeutet, dass die kirchliche Hierarchie genauso wie die politische und gesellschaftliche neue Formen finden muss, um ihre eigene Kommunikation zu erarbeiten, damit ihr Beitrag in diesem Forum die angemessene Aufmerksamkeit erhält.“

Der nicht nur kirchenpublizistisch und medienethisch, sondern auch sozialethisch interessante Text ist auf den Seiten des Päpstlichen Rates für die sozialen Kommunikationsmittel hier veröffentlicht. Das Zitat stammt aus dieser privaten Übersetzung.

[via Clearingstelle Medienkompetenz der DBK; auch „Kirche 2.0“ setzt sich hier mit dem Text auseinander]