Schule in Bayern – eine Katastrophe?

Heute in der „Süddeutschen Zeitung“ hat Birgit Taffertshofer einen sehr interessanten und kritischen Artikel über das Schulsystem in Bayern geschrieben („Abi um jeden Preis„). Während auf der Didacta der Stand des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus laut Berichten überaus üppig ausgefallen ist, müssen die bayerischen Gymnasiallehrer wieder zu Frontalunterricht übergehen, weil sonst der Stoff nicht vermittelt werden kann, so der Artikel. Und weiter: Grundschullehrer und -lehrerinnen haben keine Zeit, sich mit den Kindern zu beschäftigen, weil Sie sich mit unverschämten Eltern auseinandersetzen müssen, die ihr Kind in das Gymnasium pressen wollen. Ich kenne da eine Grundschullehrerin aus der Nähe des Starnberger Sees (auf diese Region wird im Artikel auch Bezug genommen), die davon Horrorgeschichten erzählen kann.

Dazu passt, dass in der gleichen Ausgabe der Süddeutschen die Lebenserinnerungen des Pädagogen Hartmut von Hentig positiv rezensiert werden. Vielleicht wäre das ja eine anregende Lektüre für die Verantwortlichen in Bayern?

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20 comments

  1. Dr. Axel Bernd Kunze sagt:

    Leider bleibt auch dieser Beitrag bei einer oberflächlichen Kritik am bayerischen Schulsystem stehen. Zumindest zeigt der Beitrag, welcher Preis für eine obligatorische Ganztagsschule gezahlt werden könnte. Pädagogische durchdachte und solide finanzierte Ganztagesangebote als Alternative ja, uniforme Lösungen für alle nein. Was die zitierte Lehrerin berichtet, zeigt, daß die Erziehungspartnerschaft zwischen Lehrern und Eltern vielfach zerbrochen ist. Wenn allerdings die erzieherische Seite von Bildung – die Charakterbildung – vernachlässigt wird, bleibt nur noch der „nackte“ Leistungsgedanke übrig und verkommt Bildung zu rein funktioneller Ausbildung. Sehr leicht werden Kinder dann auf die Zwecke ihrer Eltern festgelegt. Wenn Akademikereltern das Gymnasium lediglich als „Zugang zu Lebenssicherheit“ verstehen, zeugt dies von einem sehr instrumentellen Verständnis von Bildung. Ob sie ihre Kinder dazu anregen und motivieren können, wirklich bis zur Substanz der Kulturinhalte vorzudringen, in die das Gymnasium einführen will, bleibt mehr als fraglich. Gerade deswegen sollte die Biographie von Hentigs zur Lektüre empfohlen werden. Hoffentlich bewirkt dieses Werk mehr als nur die wehmütige Erinnerung an eine immer stärker bedrohte bildungsbürgerliche Kultur, die – recht verstanden – für die geistige Vitalität und kulturelle Spannkraft einer Gesellschaft unverzichtbar bleibt.

  2. Alexander Filipović sagt:

    Axel, selbtverständlich hast Du Recht und vor allem gefällt mir die veränderliche (revolutionäre?) Kraft, die Du einer recht verstandenen bildungsbürgerlichen Kultur zuschreibst.
    Letztlich bleibt doch aber das Problem, dass Schule ganz einfach faktisch die Funktion erfüllt, Lebenschancen zuzuweisen und zu verweigern. Nur wer Abitur hat, kommt an bestimmte Jobs. Und nicht jede und jeder schafft das Abitur. Und „Abitur“ hat sich als Zertifikat einfach sozusagen symbolisch verselbständigt: „Schlaue“ Kinder fallen durch, „weniger schlaue“ dagegen schaffen es (das hängt ja von extrem vielen Faktoren ab). Eltern wollen einfach die besten Chancen für ihr Kind – komme was wolle. Und in Bayern, die sich rühmen, einfach die beste Gymnasialausbildung zur Verfügung zu stellen, und Lehrer darüber entscheiden, wer aufs Gymnasium darf (können Lehrer das?), wird dieses Elternverhalten nur befördert.
    Ich bin skeptisch, ob Dein starker Erziehungsbegriff der Bildung eine Lösung für die selektierende Funktion von Schule sein kann. Niemand wird sein Kind auf die Realschule schicken, nur weil da mehr Zeit für Charakterbildung ist… Charakterbildung funktioniert im Zweifelsfall eher von alleine (in Freundeskreisen, Sportvereinen, Jugendgruppen) als die Wissensaneignung und das Bestehen der Abiturprüfungen.

  3. Dr. Axel Bernd Kunze sagt:

    Schule (und das unabhängig von der Schulform!) muß beide Aufgaben erfüllen: Charakterbildung UND Sachbildung – nur dann wird sie ihrer pädagogischen Aufgabe wirklich gerecht. Für beides hat Schule spezifische Möglichkeiten (auch Charakterbildung braucht in bestimmten Grenzen einen institutionellen Rahmen und verläuft nicht nur und unbedingt besser „von alleine“), aber auch kein Monopol, weshalb ich der Einführung einer verpflichtenden Ganztagsschule für alle skeptisch gegenüberstehe. Diese gegenwärtig sehr beliebte und m. E. allzuoft unreflektiert erhobene Forderung birgt die Gefahr pädagogischer Uniformierung und schulischer Monopolisierung. Das Abitur zu nivellieren und seiner erzieherischen Anteile zu berauben, wird die Bildungsprobleme der Zukunft nicht lösen helfen. Wer sagt eigentlich, daß in jedem Fall allein das Abitur „die besten Chancen“ bietet? Eltern, die nur diese eine Möglichkeit für ihr Kind anstreben – und das „komme, was wolle“ – verhalten sich nicht nur normativ (wogegen ich, wie Du weißt, nichts habe), sondern verzwecken ihr Kind für eigene Motive – und folgen damit einer nichtpädagogischen Handlungsrationalität. Die Entscheidung über die beste Schulform für ein Kind sollten Lehrer und Eltern in gemeinsamer pädagogischer Verantwortung treffen. Warum sollten Lehrer pädagogisch nicht beraten können? Wenn wir ihnen das nicht mehr zutrauen, sollten wir erst recht keine Ganztagsschule fordern.

  4. Diedrich sagt:

    Eine Nebenbemerkung aus der Praxis: Mir scheint am Bildungssystem die Paradoxie der Entwicklungen ein Grundproblem zu sein.
    Paradoxie 1: Vergleichbarkeit vs. Bildungshoheit
    Während durch internationale Vergleichsstudien und durch Bologna das Bildungswesen europaweit angeglichen werden soll, leisten wir uns die Länderhoheit über Bildung und ein einzigartiges gegliedertes Schulsystem.
    Paradoxie 2: Schulzeitverkürzung vs. Stofffülle
    Um den deutschen Schülern die Chancen auf einem internationalen Arbeitsmarkt nicht zu verbauen, wird die Schulzeit auf 12 Jahre verkürzt, gleichzeitig nimmt der zu vermittelnde Stoff ständig zu, wobei klar sein muss, dass nicht Stoff, sondern der Umgang mit ihm die eigentliche Kompetenz darstellt.
    Paradoxie 3: Bedeutung der Bildung vs. finanzielle Mittel
    Trotz der Einsicht, dass Investition in Bildung immer auch Investition in Zukunft bedeutet und trotz der Vergleichszahlen aus dem Ausland bleiben Deutschlands finanzielle Anstrengungen im Bildungssektor sehr begrenzt. Blindes Gießkannen-Prinzip soll hier nicht gemeint sein, aber ein bisschen weniger Verwahrlosung wäre ja schon mal was.
    Paradoxie 4: Professionalisierung des Lehrerberufs vs. fachfremder Unterricht
    Während allenthalben nach einer Professionalisierung des Lehrerberufs gerufen wird (was im Übrigen allen gestandenen Pädagogen einen gewissen Dilletantismus unterstellt), haben die Verantwortlichen keine Hemmungen, Lehrer fachfremd unterrichten oder sogar durch ungelernte Freiwillige und Interessierte (Hessen, Unterrichtsgarantie-Plus) vertreten zu lassen.
    Paradoxie 5: Bildungsstandards vs. Zentralabitur
    Während in der Sekundarstufe I die Lehrpläne durch prinzipiell wünschenswerte Bildungsstandards ersetzt werden, die Lehrern wie Schülern mehr Verantwortung übertragen und schwieriger zu überprüfen sind, wird in der Oberstufe dieser Bildungsanspruch konterkariert, indem Lehrer und Schüler einzig und allein auf die Erfüllung und Behandlung der Inhalte des Zentralabiturs starren.
    Ich höre hier mal auf, die Liste könnte aber noch fortgesetzt werden.

  5. Alexander Filipović sagt:

    Jawoll Stephan, tob Dich aus! Was ich beim Lesen Deines Kommentares überlegt habe: Gerade beim Thema Schule vermitteln viele den Eindruck, dass man die Probleme ja lösen könnte, wenn man nur klug genug entscheidet und regelt. Ist es aber vielleicht eher so, dass wir es mit unlösbaren Problemen zu tun haben? Aber dennoch muss man wohl fragen: Wie ist mehr Gerechtigkeit beim Bildungszugang und durch Bildung möglich?
    Ein Kommentar noch zum „Dilletantismus“: Nicht, dass meine Lehrer alle schlecht gewesen wären… Aber, Du weißt es auch, einige Dilletanten waren schon dabei…

  6. Dr. Axel Bernd Kunze sagt:

    Ob Bildungsstandards Lehrern und Schülern tatsächlich mehr (pädagogische) Verantwortung übertragen, will ich einmal dahingestellt sein lassen … Den technokratischen Bolognaprozess halte ich jedenfalls für bildungsfeindlicher als den deutschen Kultusföderalismus. Ich befürchte aber, daß wir die gewaltigen negativen Auswirkungen dieses europäischen Bürokratiemonsters langfristig erst dann spüren werden, wenn die dafür heute Verantwortlichen nicht mehr zur politischen Rechenschaft gezogen werden können. – Für lösbar halte ich die Probleme in unserem Bildungswesen schon, allerdings kann dies nur gemeinsam mit den Lehrern geschehen. Es mutet schon sehr seltsam an, daß die Bildungsreform in Deutschland erst einmal damit beginnt, die Hauptakteure – eben die Lehrer – zu beschimpfen, zu frustrieren, zu gängeln … Der Lehrerberuf ist schon lange professionalisiert. Wichtiger als die ständigen Versuche, eine vermeintlich stärkere pädagogische Kompetenz der Lehrer gegen deren Fachkompetenz auszuspielen, wäre es allerdings, daß Eltern, Politiker und Schulverwaltungen ihnen pädagogisch den Rücken stärken würden. Das gegenwärtige System und die aktuell auf dem Tisch liegenden Vorschläge belohnen hingegen eher Lehrer, die ihre pädagogischen und erzieherischen Erwartungen an ihre Schüler herunterschrauben. Offensichtlichem Erziehungsversagen in Familie und Schule (jüngstes Beispiel die Debatte um das Flatratetrinken) begegnen wir dann lieber mit Verboten – siehe Rauch- und Alkoholverbote. Von einer pädagogsichen Tugenderziehung zum Maßhalten wagt dagegen gegenwärtig interessanterweise keiner zu sprechen.

  7. Diedrich sagt:

    Volle Zustimmung zum Thema „Maßhalten“ und „Verbote“. Ebenso denke auch ich, dass Kommunikation aller Beteiligten (Lehrer, Eltern, Politiker, Schulverwaltungen) wichtig ist, und selbstverständlich müssen Lehrer als „Hauptakteure“ gestärkt werden.
    Aber zum Stichwort „Föderalismus“: Ganz fatalistisch gedacht, lässt sich Bologna nicht aufhalten. Hier wäre also nicht Verweigerung angesagt, sondern Mitgestaltung. Denn Module „basteln“ und mit blumigen Bezeichnungen versehen ist das Eine, sie mit Inhalt und Leben zu füllen wieder etwas ganz anderes. Es kann doch nicht sein, dass ein Umzug oder ein Arbeitsplatzwechsel zwischen verschiedenen Bundesländern mehr Probleme mit sich bringt als zwischen verschiedenen Staaten.

  8. Alexander Filipović sagt:

    Zum „Maßhalten“: Man muss auch mit der Hedonismusabstinenz maßhalten. Auch eine Tugend!
    Jetzt interessiert mich doch mal, wie das mit der Verantwortung und den Bildungsstandards ist – gibt es da zwischen Euch beiden Lehrern etwa eine Kontroverse?
    Sind mit „Bildungsstandards“ Inhalte gemeint, die „jeder Mensch wissen muss, um ein wertiges Mitglied der Gemeinschaft zu werden“ (Waaaaas, Du hast „Buddenbrooks“ nicht gelesen und spielst kein Instrument?)? Dann finde ich das doof (versnobte Bildungsbürgertumeinstellung, die letztlich einen hegemonialen Diskurs repräsentiert und immer ausgrenzt und in und wegen dieser Funktion munter weiter existiert…). Oder sind mit „Bildungsstandards“ Kompetenzen gemeint, die für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind? Dann finde ich das gut und stimme Stephan zu. Dieser Gedanke der funktionalen Basis-Kompetenzen kann dann leicht mit der These anderer Anforderungsniveaus in der modernen Gesellschaft verknüpft werden (um einer gefährlichen Universalisierung von Basisqualifikationen zu entgehen). Und Buddenbrooks gehört dann eben nicht in die erste Reihe…

  9. Diedrich sagt:

    Bildungsstandards Deutsch mittlerer Abschluss KMK
    Die Bildungsstandards geben vor, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler im jeweiligen Fach am Ende eines bestimmten Zeitabschnitts beherrschen muss, also für das Fach Deutsch etwa Inhalte zusammenfassen, erörtern, argumentieren, berichten, Texte umformen, eigene kreative Texte verfassen, Umgang mit Medien usw. In der Oberstufe dreht sich das dann (trotz oder wegen z. B. EPA – EinheitlicherPrüfungsAnforderungen in Hessen) und alle müssen „Don Carlos“ von Schiller gelesen haben. Das heißt, alle hessischen Abiturienten können, wenn sie sich später auf dem Campus zu einer Tasse Fencheltee treffen, über „Don Carlos“ reden. Gut, ne?

  10. Dr. Axel Bernd Kunze sagt:

    Wenn „Hedonismus“ die „Empfindung von Lust“ im Sinne von Glück und gutes Leben meint, dann setzt dies das Maßhalten gerade voraus. Denn auch Glück muß erarbeitet werden und bedarf der Disziplin. Schnelle Bedürfnisbefriedigung schafft nur schnellen, oberflächlichne Genuß, kein tieferes Glücksempfinden. –
    Im Grunde sind Bildungsstandards so alt wie die Schule selbst. Neu an der aktuellen Debatte ist die Umstellung von vorrangig input- auf outputorientierte Vorgaben. In der Praxis verläuft diese Entwicklung m. E. allerdings keinesfalls so geradlinig, wie in der gegenwärtigen Pädaogik oder Bildungspolitik gerne behauptet (die Einführung des Zentralabiturs verstärkt mitunter gerade die Inputorientierung). Überdies wird die formale Kompetenz meiner Meinung nach viel zu sehr überschätzt: Kompetenzen können nicht losgelöst von Inhalten gelernt werden, und bei der Auseinandersetzung mit Inhalten erwerbe ich immer auch Kompetenzen. Eine allzu starke und einseitige Kompetenzorieniterung kann leicht in fachlichem Dilettantismus enden. Deiner Kritik an einer vermeintlich „versnobten Bildungsbürgertumeinstellung“ teile ich, wie Du Dir denken kannst, nicht. Bildungsinhalte unterscheiden sich in ihrem Bildungswert – oder sie sind eben keine Bildungsinhalte, sondern einfach nur qualitativ nicht näher bestimmbare Wissenseinheiten. Dann bräuchten wir uns aber auch nicht mehr über Didaktik, Bildungsstandards, Lehrpläne oder Curricula Gedanken machen – dann wäre schließlich alles beliebig. Es macht eben einen Unterschied, ob ich im Deutschunterricht die „Buddenbrooks“ oder den neuesten Herz-Schmerz-Arztroman lese. Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß anspruchsvolle Diskurse, auf die unsere Demokratie unverzichtbar angewiesen ist, ohne die Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten nicht gepflegt werden können. Wenn wir Inhalte nicht mehr in ihrer Wertigkeit zu unterscheiden lernen – durchaus eine wichtige Bildungaufgabe der Schule -, dann werden wir auch leicht politisch manipulierbar. Hier liegt m. E. ein Fehlverständnis von funktionaler Kompetenzorientierung vor: Die Ausbildung von Sprachfähigkeit oder die Kompetenz, mit Texten umzugehen, kann nicht von der Frage nach den konkreten Inhalten losgelöst werden – ich kann diese Fähigkeiten eben besser entwickeln, wenn ich mich mit einem Werk auseinandersetze, das den Literaturnobelpreis erhalten hat, als wenn ich nur Trivialliteratur lese. Ich glaube, daß es Dir in der Praxis auch nicht egal ist, ob die Studierenden, die in Deinen Seminaren vor Dir sitzen, wissen, was die Bibel ist oder eben nicht (materialer Inhalt!) – nach dem Motto: „das ist eben eine Aneinanderreihung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen“. Du siehst, ich karikiere durchaus mit etwas polemischer Absicht (ich gebe es zu) jetzt bewußt die funktionale Kompetenzorientierung. Wenn ich aber höre, daß ein Gymnasiallehrer erklärt „Den ‚Untertan‘ lese ich mit meinen Schülern nicht mehr, das tue ich mir nicht mehr an“, dann frage ich mich, welche Studierfähigkeit wir mit unserem Abitur eigentlich noch bescheinigen. Ich halte es nicht für „versnobt“, von einem Abiturienten, dem wir die Allgemeine Hochschulreife ausstellen, zu erwarten, daß er einen Roman von Heinrich Mann lesen kann. Ähnliches gilt auch für das Studium. Mir ist es nicht egal, ob mein Pfarrer, den ich am Sonntag in der Kirche erlebe und dessen Predigt ich höre, in seinem Studium Karl Rahner und Joseph Ratzinger oder Anselm Grün und Tiki Küstenmacher gelesen hat oder ob er für seine Predigtvorbereitung Nestle-Aland oder eine Kinderbibel verwendet hat. Da bin ich „wertig“ – und das ist auch gut so.

  11. Diedrich sagt:

    Kann ich meine Kommentare bearbeiten? Das mit dem Link hat nicht geklappt – Codefehler…

  12. Sebastian Zink sagt:

    Hm, das Lesen dieser Diskussion reizt mich jetzt auch zu ein paar Kommentaren.
    Zunächst zu den Bildungsstandards: Bildungsstandards sind dem Anspruch nach Versuch der Umorientierung der Steuerung des Bildungssystems von einer Input-Orientierung, bei welcher Lehrpläne vorschreiben, welche Inhalte und Gegenstände im Unterricht zu behandeln sind, zu einer Outcome-Orientierung – sprich es sollen nicht Gegenstände und konkrete Inhalte, sondern die an ihnen zu erwerbenden Kompetenzen festgelegt werden. Im Ergebnis sollen a) die Schulen und Lehrer eine größere Freiheit bei der Auswahl und Anordnung der Inhalte bekommen, um den Unterricht besser auf die unterschiedlichen Vorkenntnisse und -erfahrungen der Schüler anpassen zu können, und b) eine größere Vereinheitlichung und Verbindlichkeit der Lernergebnisse erzielt werden — nur eben nicht im Sinne konkret gelernter „Inhalte“, sondern von Kompetenzen. Allerdings müssen die dann auch konkret genug definiert sein, woran es aktuell m. M. nach noch arg mangelt. Die Idee ist trotzdem ja an sich nicht schlecht, nur konsequent zu Ende gedacht, bräuchte es dann zum einen andere Instrumente, um der Selektionsfunktion von Schule sinnvoll gerecht zu werden – Kompetenzen in eine Sechsernotenskala zu fassen ist ja wohl nicht wirklich aussagekräftig. Zum anderen bräuchte es einen stärkeren Wettbewerb unter den Schulen, sprich mehr Eigenverantwortung für die einzelne Schule und damit auch mehr Verantwortung für die Eltern, die die Schule für ihr Kind ja dann doch entscheidend mit aussuchen. Und da die Voraussetzungen, die Güte einer Schule zu beurteilen, in unserer Gesellschaft wohl sehr unterschiedlich ausgeprägt sind (und immer sein werden), lugt dann doch sehr schnell wieder das Gespenst des Gerechtigkeitsmangels hinter dem Berg hervor. In der Praxis wird die ganze Sache also dann gleich wieder wesentlich komplexer (mal ganz abgesehen davon, ob z.B. die Bayerische Staatsregierung es wirklich schaffen würde, sich einen engeren Zugriff auf das Bildungssystem zu verkneifen).

    Dann zum Thema „Tugenderziehung“: Verbote bringen auch m.M. nach nichts, eine „Tugenderziehung“ allerdings ist auch eine schöne Forderung, die zum einen aber letztendlich nur die Förderung einer verantwortlichen Lebensgestaltung bedeuten kann (zu der auch ein gewisses Maß an Genuss gehört) und zum anderen die Frage aufwirft, wie das tun? Ein entscheidender Baustein wäre für mich hier ein stärkeres „in-Verantwortung-nehmen“ der Jugendlichen, was neben des Schaffens von Möglichkeiten der Verantwortungsübernahme v.a. bedeutet, dass die Konsequenzen ihres Handelns sowohl in positiver wie auch negativer Hinsicht stärker auf sie zurückfallen. In unserem Schonraumkonstrukt sind sie doch zu einem Großteil kaum persönlich und entscheidend von diesen betroffen. In einer solchen Logik halte ich auch die vom Bayerischen Kultusministerium in der letzten Woche per Pressemitteilung verkündete Zielrichtung, Eltern (und nicht die Schüler!!!) bei der Gestaltung von Schule stärker einzubeziehen, für eine falsche Weichenstellung.

  13. Sebastian Zink sagt:

    Da haben Axel und ich jetzt wohl gleichzeitig geschrieben.

  14. Dr. Axel Bernd Kunze sagt:

    „Und da die Voraussetzungen, die Güte einer Schule zu beurteilen, in unserer Gesellschaft wohl sehr unterschiedlich ausgeprägt sind …“ – … und gerade deswegen gibt es so schöne Fächer wie Pädagogik (zumindest in NRW). 🙂 Zurück zum fachdidaktischen Ernst: Pädaogik ist – neben Politik (im weitesten Sinne), Recht, Religion und Wirtschaft – ein wichtiger Teil unseres sozialen Lebens. Daher sollte im sozialwissenschaftlichen Aufgabenfeld der Schule – auch über einen speziellen Pädagogikunterricht hinaus – eines der aufgabenfelddidaktischen Ziele die Vermittlung, pädagogischer Reflexions- und Urteilskompetenz sein. Schule wird immer in bestimmten Grenzen ein Schonraum bleiben, das ist eines ihrer Charakteristika. Daß Tugenderziehung nicht zuletzt durch die Übernahme eigener Verantwortung – und dann auch eigener Haftung – geschehen sollte, unterstreiche ich allerdings ausdrücklich. Was m. E. allerdings nicht passieren darf, ist, daß dabei Kompetenzgrenzen überschritten oder verwischt werden – beispielsweise, wenn Schüler (oder auch Eltern) über dienstrechtliche Angelegenheiten von Lehrern zu entscheiden haben; dies bleibt Aufgabe des Dienstherrn oder der Lehrer selbst.

  15. Sebastian Zink sagt:

    Tja, da ist NRW Bayern offensichtlich wirklich einen Schritt voraus (aber wir haben ja Gott sei Dank einen Landesvater, der weiß was für uns gut ist und uns das lästige Beurteien und Reflektieren abnimmt – entschuldigung, ich überziehe jetzt auch a biserl). Nichts desto trotz gebe ich dir in Bezug auf die Vermittlung von pädagogischer Reflexions- und Urteilskompetenz recht – so müsste es laufen. Tut es aber nicht – zumindest in Bayern nicht einmal in Ansätzen. Und dann bleibt auch immer noch die Frage, ob eine solche Qualifikation schularten- bzw. (an Gesamtschulen) kursübergreifend in auch nur sich annähernder Weise gelingen kann, insbesondere, da ähnliche Kompetenz auch auf Gebieten wie Gesundheitssystem, Versicherungssystem … immer mehr von Nöten wird. Da kommt man schnell an die (übrigens inhaltlichen) Grenzen. Deinen Ausführungen zu den Kompetenzen von Lehrern schließe ich mich ebenfalls an. Ich würde sogar sagen, dass auch in deren fachliche und pädagogische Kompetenz nicht zu intensiv hineinzureden wäre – denn sie sind es schließlich, die ob ihres studientechnisch und praktisch erworbenen Reflexionshintergrundes die erzieherische Aufgabe der Eltern in Bezug auf die Entfaltung der Möglichkeiten zu verantwortlichem Handeln und mehr ideal ergänzen können (sollten). Nichts desto trotz gibt es viele Bereiche, in denen Schüler bei der Gestaltung von Unterricht und Schule intensiver einbezogen werden könnten und sollten.
    Eine Anmerkung noch zu Heinrich Mann. Die Fähigkeit den „Untertan“ zu lesen, ist m.M. nach eine Kompetenz, die vielleicht mit „(literarische) Texte lesen und verstehen können“ umschrieben werden könnte. Diese ist an Texten unterschiedlicher Fasson und literarischer Qualität zu erwerben, denn Schüler werden in ihrem Leben mit unterschiedlichsten Texten konfrontiert sein. Einen festen literarischen Kanon halte ich für Unsinn und würde es eher dem – dann geschulten – Verständnis und Eigenurteil der Schüler überlassen, was ihnen gefällt und welche Texte sie jenseits einer inhaltlichen Ebene auch auf ästhetische Weise genießen können (Kompetenz: „Lektüre selbstverantwortlich auswählen und beurteilen“). Ich z.B. finde „Der Untertan“ auch sprachlich furchtbar und in keinster Weise (außer vielleicht bei literatur- bzw. gesellschaftshistorischem Gesellschaftsinteresse) für weiterempfehlenswert. Schon gar nicht für den Unterricht. Der Prediger sollte vor dem Reflexionshintergrund eines Theologiestudiums (das wie jedes Studium im Gegensatz zur Schule auf ein relativ eng gefasstes Ziel hinsteuert und daher auch spezifische Inhalte umfasst) die Fähigkeit haben, seine theologische Lektüre dem Anlass entsprechend auszuwählen.

  16. Alexander Filipović sagt:

    …und ob der Nestle-Aland oder Rahner dem Anlass entsprechen… Vielleicht doch eher Tiki Küstenmacher (wer immer das ist…). Offenbar, lieber Axel, habe ich einen Mitstreiter gefunden was die Frage angeht, ob es „wertvolle Unterrichtsinhalte an sich“ geben kann. Entscheidend bleibt ihre funktionale Verwendung im Hinblick auf die Lebensführung in der modernen Gesellschaft – und das kann auch mit Don Carlos gehen (vielleicht schmeckt dann der Fencheltee besser). [Jetzt kommt gleich als Erwiderung das Zukunftsparadoxon der Pädagogik…] 😉

    Finde das hier sehr lehrreich!

  17. Dr. Axel Bernd Kunze sagt:

    Nein, das „Zukunftsparadoxon“ will ich jetzt gar nicht wiederholen, auch wenn die Pädagogik diesem niemals wird ausweichen können. Mir geht es um etwas anderes: Schule kann schon aus Zeitgründen nicht in „alles“ einführen, aber in das „Ganze“ unserer Kultur – und das exemplarisch. Dazu gehört aber auch die Auseinandersetzung mit den Klassikern. Über die genaue Titelauswahl können wir dann gern streiten. Ich bleibe aber dabei, daß es Inhalte gibt, mit denen ich bestimmte sprachliche oder literarische Fähigkeiten besser ausbilden kann an als mit anderen. Nun muß niemand ein Freund von Heinrich Mann werden, aber die Fähigkeit, diesen lesen zu können, sollte von einem Abiturienten schon erwartet werden dürfen – sonst brauchen wir das Abitur nicht mehr Hochschulreife zu nennen. Außerdem sehe ich es durchaus als Aufgabe der Schule an, bestimmte Inhalte vorzugeben. Schüler sollten altersangemessen an Entscheidungen beteiligt werden, ihre Möglichkeitsbedingungen, solche Entscheidungen in freier Verantwortung selbst zu treffen sollten aber auch nicht über- und die erzieherische Verantwortung der Lehrer dagegen nicht unterschätzt werden (wozu auch eine didaktische Auswahlkompetenz gehört). In der Freizeit können die Schüler Bravo lesen und Tokio Hotel hören, in der Schule sollten sie Heinrich Mann, Thomas Mann, Schiller und Johann Sebastian Bach kennenlernen. Es ist nicht die Aufgabe der Schule, bloß ein Abbild der zufällig gerade aktuellen Populärkultur zu liefern. Im übrigen weiß schon der Volksmund, daß mitunter der Appetit erst beim Essen kommt. Die Kompetenz auszubilden, mich begründet für oder gegen etwas zu entscheiden, setzt voraus, daß ich bestimmte Inhalte überhaupt erst einmal kenne. Wenn Schule dagegen bei den Bildungsinhalten nur auf die Selbstauswahl der Schüler setzen wollte, würde sie zum beliebigen Bauchwarenladen verkommen.

  18. Dr. Axel Bernd Kunze sagt:

    Noch eine Bemerkung zur theologischen Lektüre: Der Pfarrer sollte immer Rahner, Ratzinger und Neste-Aland lesen – unabhängig vom Anlaß. Das gehört m. E. zum professionellen Anspruch des Berufes – ansonsten könnten wir auf die universitäre Ausbildung verzichten. Zur professionellen Berufskompetenz, die ein Studium vermitteln soll, gehört dann aber, auf den Anlaß und die Zielgruppe entsprechend einzugehen, ohne den Anspruch der eigenen Botschaft dabei zu nivellieren oder zu „verraten“.

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